Ausstellung Kehl im Kaiserreich

100 Jahre Vereinigung von Dorf und Stadt Kehl

Aufgrund eines regionalhistorischen Jubiläums ging die Exkursion des AK Regionalgeschichte Freiburg am 27. Juli 2010 nach Kehl. Vor 100 Jahren haben sich dort die Stadt und das gleichnamige Dorf zusammengeschlossen.

Plakat (Ausschnitt) – Vorlage: Hanauer Museum

Die Exkursionsführung übernahm dankenswerterweise die Kehler Museumsleiterin und Stadtarchivarin Dr. Ute Scherb. Die ungewöhnliche Stadtentwicklung Kehls erschloss sich den Teilnehmern zunächst auf einem Stadtrundgang, der streckenweise der „Vereinigungslinie“ folgte, einer in roter Farbe über Gehwege und Straßen gezogenen Linie entlang der bis 1910 bestehenden Gemarkungsgrenze zwischen Stadt und Dorf Kehl. Außenrum das rein evangelische Dorf mit knapp 5000 Einwohnern, mittendrin die Stadt mit ihren zu 50 Prozent katholischen 3367 Bürgern, so stellte sich vor 1910 die sonderbare lokale Situation dar.

Die Stadt Kehl hat sich aus einer zwischen der Kinzig und einem Altrheinarm gelegenen Festung entwickelt. Eine ältere dörfliche Ansiedlung dort war 1678 im Zuge der französischen Invasion zerstört worden. Nun wurde zum Schutz der Rheinbrücke 1681 bis 1688 eine von Vauban entworfene Festung erbaut, die die Franzosen bis 1815 innehatten. Dort siedelten sich vor allem deutsche Handels- und Gewerbetreibende an. 1774 verlieh Margraf Karl Friederich dem neu entstandenen Kehl die Stadtrechte. Nach dem Ausbau des Rheinhafens 1897-1900 setzte die Landesregierung Kehl-Dorf unter Druck, sich mit der Stadt zu vereinigen. Kehl-Dorf, auf dessen Gemarkung der Rheinhafen lag, wollte aber seine Selbstverwaltungseinrichtungen und sein gegenüber Kehl-Stadt höheres Gemeindevermögen für sich behalten. Nach jahrelangen erbitterten Streitigkeiten gelang dem Stadt-Kehler Bürgermeister Hermann Dietrich (1879-1954), später in der Weimarer Republik Finanzminister im Kabinett Brüning, seinen Dorf-Kehler Amtskollegen Mathias Krauß von der Notwendigkeit des Zusammenschlusses zu überzeugen. So konnte, nach Verabschiedung eines Gesetzes im Landtag, die „Vereinigung“ (nicht: Eingemeindung) zum 1. Januar 1910 in Kraft treten.

Kehler Eisenbahnbrücke – Foto: Markus Eisen

Dem Rheinufer entlang, vorbei an den drei Rheinbrücken (Eisenbahnbücke, Europabrücke von 1960, „Passerelle des deux rives“ bzw. „Friedensbrücke“ der binationalen Gartenschau 2004), führte Dr. Scherb die Exkursionsteilnehmer zur „Kommissionsinsel“: Kehls Villenviertel, das unmittelbar nach der Vereinigung 1910 auf einer von einem Altrheinarm umgebenen Rheinschwemmlandinsel erschlossen wurde. Allerdings kam der Villenbau erst nach der Errichtung der katholischen Nepomuk-Kirche 1912 in Gang. Verwunderlich ist, dass an diesem exponierten Ort am Rheinufer auch nach 1918 weitere stattliche Villen entstanden, obwohl das Gebiet westlich des Rheins nun wieder zu Frankreich gehörte. In den 1920er Jahren lebte Kehl unter französischer Besatzung. Mit der 1930 wiedererlangten Unabhängigkeit wurden die Nationalsozialisten sogleich die stärkste Fraktion im Rathaus.

Die nächste Station der Exkursion war das Hanauer Museum, wo Ute Scherb die Teilnehmer durch die von ihr konzipierte Sonderausstellung „Kehl im Kaiserreich – Hundert Jahre Vereinigung von Dorf und Stadt Kehl“ führte. Die Ausstellung, die verschiedene originelle Visualisierungsideen aufweist, gibt anhand der zehn im Folgenden aufgeführten thematischen Stationen einen vielschichtigen Einblick in die örtlichen Besonderheiten der Grenzstadt Kehl:
– Kehl und der Deutsch-Französische Krieg: 1871 wurde Kehl als einzige deutsche Stadt zerstört.

– Kehl als Garnisonsstadt: 1890 wurde Kehl durch Bau der Großherzog-Friedrich-Kaserne (Badisches Pionierbataillon Nr. 14) zur Garnisonsstadt. Verschiedene Devotionalien wie etwa bemalte Bierkrüge für Reservisten zeigen, wie das öffentliche Leben der Stadt wieder zunehmend vom Militär bestimmt wurde.

– Wirtschaft und Verkehr: Die Erweiterung des Rheinhafens 1890-1900 für 10 Millionen Mark war der Anlass für die Landesregierung, die Vereinigung von Stadt und Dorf zu forcieren.

– Kehl und der Tourismus: Karikaturen zeigen den notorischen Kehler Gendarmen Krebs, wie er mit einer Stoppuhr durchfahrende Automobile kontrollierte und sich auch nicht scheute, Straßburger Damen wegen Überschreitung der erlaubten 12 km/h anzuzeigen.

– Kehls Vereinsleben: Dazu zählten die Feuerwehr, die Freimaurer, der Frauenverein von 1875, der Schwarzwaldverein von 1877, der Veteranenverein von 1887. Der 1891 gegründete „Socialdemokratische Wahlverein“ veranstaltete in Kehl ab 1893 für den Reichstagsabgeordneten des Wahlkreises Straßburg, August Bebel (1840-1913), mehrfach politische Kundgebungen, da die nach dem „Diktaturparagraph“ auf der anderen (damals deutschen) Rheinseite, im Reichsland Elsass-Lothringen, verboten waren.

– Kinder, Küche, Kirche – Streiflichter aus Kehls Alltag.

– Ein steiniger Weg – die Vereinigung von Dorf und Stadt Kehl.

– Die Stunde des Bauhandwerks – Kehl im Aufschwung: Nach 1910 wurde durch Wasserversorgung und Kanalisation die Infrastruktur modernisiert, Neubaugebiete wie das Villenviertel „Kommissionsinsel“ wurden zügig erschlossen.

– Kehl und der Erste Weltkrieg: Nach den kurzen Jahren des Aufschwungs kamen ab 1914 Notjahre aufgrund der kriegsbedingten besonderen Belastungen für den Brückenort, so z. B. durch die Einquartierung von zeitweise 15.000 Militärpersonen.

Kindervierrad aus der Kaiserzeit. Foto: Hanauer Museum

„An sich gab es in Kehl nur eine Gründerzeit: die Jahre von 1910 bis 1914“, resümierte Dr. Scherb. Dank der vielfältigen von ihr vermittelten Einblicke bekamen die Exkursionsteilnehmer ein eindrucksvolles Bild von den wechselvollen Lebenslagen in dieser Stadt. Durch ihre exponierte Lage am Rhein unmittelbar gegenüber der Metropole Straßburg ist Kehl wohl die am stärksten durch ihre Grenzlage geprägte badische Stadt. Die Symbolträchtigkeit dieses deutsch-französischen Grenz-Brennpunktes hat erneut der NATO-Gipfel im vergangenen Jahr gezeigt, als am 4. April 2009 Europas Staatsoberhäupter auf der Kehler „Friedensbrücke“ mit dem vom französischen Ufer her nahenden Staatspräsidenten Sarkozy zusammentrafen.

Markus Eisen