Exkursion zum Uhrenindustriemuseum

Eingang zum Uhrenindustriemuseum – Foto: Wolfgang Schneider (WS)

Das Uhrenindustriemuseum Schwenningen

„Württembergische Uhrenfabrik Bürk Söhne“ steht groß auf einem Firmenschild an der schmucken Backsteinfassade des mehrgeschossigen Fabrikgebäudes in (Villingen-) Schwenningen. Als die ExkursionsteilnehmerInnen am 18. Oktober 2008 im „Car Sharing“-Bus vor dem Gebäudekomplex vorfahren, bekommen sie bereits auf den ersten Blick eine Ahnung von der zentralen Bedeutung, die diese Fabrik für die Stadt einmal gehabt hat. Seit 1994 beherbergt das Gebäude das Uhrenindustriemuseum Schwenningen, das 2003 mit dem Luigi-Micheletti-Preis des European Museum Forum als bestes technisches Museum in Europa geehrt worden ist.

Stechuhr – Foto: Uhrenindustriemuseum

Im Uhrenindustriemuseum erwartet uns unser Vereinsmitglied Dr. Annemarie Conradt-Mach, die uns dann sachkundig und kurzweilig durch die Fabriksäle und entlang der Produktionsstraßen führt.

Beim Eintritt ist zunächst eine Stechuhr zu betätigen; stand doch am Anfang von Schwenningens industriellem Aufstieg die um 1855 gelungene Erfindung einer Nachtwächterkontrolluhr durch Johannes Bürk (1832-1872).

Damals wurden daraufhin zunächst schwerpunktmäßig Kontrolluhren hergestellt und als Massenprodukt später folgerichtig Wecker. Erst durch solche Zeitmesser ließ sich die für die arbeitsteilige Fabrikproduktion nötige Zeitdisziplin etablieren.

Vorbei an einer Art Uhrengalerie, wo in Vitrinen sämtliche Uhren aus rund 100 Jahren Schwenninger Uhrenproduktion versammelt sind, gelangen wir in die Fabriksäle. Dort stehen, aneinandergereiht zu Fertigungsstraßen und blinkend im Licht der Lampen, die imposanten Drehmaschinen – ebenso der Stolz des Hauses wie die Uhren. An den Wänden angebrachte, einheitlich gestaltete Schautafeln vermitteln durch Texte und Fotografien den historische Hintergrund.

Drehautomat – Foto: WS

Während Dr. Conradt-Mach das von der Fabrik bestimmte Arbeiten und Leben anschaulich schildert und dabei mit Hilfe prägnanter Anekdoten die wirtschaftliche Entwicklung zu ortstypischen sozialen Auswirkungen in Beziehung setzt, erklärt der technische Leiter des Museums und gelernte Feinwerktechniker Heinrich Malek den Produktionsablauf und setzt dazu mehrere Drehmaschinen in Gang. Das Versprechen des Museumsmottos „Industriegeschichte erleben“ wird dank des Engagements beider Museumsführer vollauf eingelöst.

So bekommen wir eine Vorstellung von Schwenningen als einem Laboratorium der Industrialisierung, die Deutschland verspätet erfasst, aber dann ungeheuer rasant zwischen 1870 und 1890 von einem Agrarland zu einer führenden Industrienation umgewandelt hat.

Auch in Schwenningen setzte diese Entwicklung abrupt um 1870 ein, als kurz nach Anschluss an das Eisenbahnnetz vermögende Handwerkerfamilien wie Bürk, Kienzle und Mauthe die „Uhrenherstellung nach amerikanischem System“ aufnahmen. Damit begann die fabrikmäßige Uhrenfertigung und endete jäh die berühmte handwerkliche Uhrenproduktion Schwarzwälder Bauernfamilien. Für die um 1900 eingeführte Automatisierung wurden die Drehautomaten zunächst noch aus den USA importiert, bald aber entwickelten hiesige Ingenieure solche Maschinen selbst. Hier liegen die Anfänge des Maschinenbaus, von dem die Region heute lebt – nach dem Ende der Uhrengroßindustrie und dem massiven Strukturwandel der 1980er und 90er Jahre.

Fahrtschreiber – Bild: Uhrenindustriemuseum

Das rasante Wachstum Schwenningens als Industriestadt zeigte sich deutlich im Anstieg der Bevölkerungszahl von 4300 Einwohnern im Jahr 1870 auf mehr als 15000 im Jahr der Stadterhebung 1907. Inmitten des althergebrachten südwestdeutschen Provinzlebens entstand dadurch ein Brennpunkt der Industrialisierung, über dessen ganz eigene Seiten wir von Dr. Conradt-Mach manches Erstaunliche erfahren haben.

So wählten bei den Reichstagswahlen 1897 bereits mehr als 50 Prozent die SPD, andererseits besaßen 1912 etwa 30 Prozent der Arbeiter ein eigenes Haus meist mit kleiner Landwirtschaft, was wiederum dem Durchhaltevermögen bei wochenlangen Streiks zugute kam, wie beispielsweise 1907 bei den ersten gewerkschaftlichen Tarifkämpfen.

Mit der Mechanisierung der Produktion nahm auch die Frauenarbeit zu, sodass bereits vor dem 1. Weltkrieg die Frauen über ein Viertel der Belegschaft stellten. Nicht zuletzt wegen der (oft aufgrund sozialer Notlagen nach Schwenningen kommenden) Frauen entstand ein vielfältiges Vereinswesen. Insbesondere die Minorität der Katholiken hatte für verschiedenste Anlässe ihre eigenen Vereine (z.B. ab 1906 kath. Arbeiterverein, ab 1925 kath. Arbeiterinnenverein). Überhaupt scheinen alle religiösen und weltanschaulichen Gruppierungen der damaligen Zeit in Schwenningen vertreten gewesen zu sein.

Psychologische Kriegführung um 1965: Auslöser für Flugblattabwurf über feindlichem Gebiet –
Foto: Uhrenindustriemuseum

In den 1920er Jahren war Schwenningen stärker von der Wirtschaftskrise und der politischen Radikalisierung betroffen als das agrarische Umland. In Bezug auf den Arbeiterwohnungsbau gab es erstaunliche Anstrengungen. So ließ beispielsweise der Unternehmer Dr. Fritz Mauthe (1875-1951), der für die DDP im Landtag saß, modern ausgestattete Einfamilienreihenhäuser erstellen, die die Arbeiter durch Abzahlungen von ihrem Lohn erwerben konnten. Eine Selbstbaugenossenschaft der SPD wiederum errichtete gemeinschaftlich Mehrfamilienhäuser.

In den 1950er und 60er Jahren wurde nochmals kräftig in die Uhrenindustrie investiert.

Doch in den 70ern brachte die Erfindung der Quarzuhr für Schwenningen die „Uhrenkrise“ und schließlich das Aus für die Uhrengroßindustrie. Fast grotesk erscheint das letzte Schwenninger Uhrenfabrikat vom Anfang der 70er Jahre, das niemand mehr kaufen wollte: „Kiss Kiss, der freundliche Kissenwecker“ kostete 99 DM, war flach, aber so groß, dass er kaum unter ein Kissen passte.

Im Anschluss an die Führung reicht uns die Zeit leider nur noch für einen kurzen Rundgang durch die Sonderausstellung „Die Baar als Einwanderungsland“. Sie thematisiert auf informative Weise die Zuwanderung von Arbeitskräften nach Schwenningen.

Ab 1870 kamen durch den Eisenbahnbau erste italienische Arbeiter in den Ort, und um 1900 gab es dann bereits etliche Fabrikarbeiter aus Norditalien. Nach 1945 wurden zahlreiche Flüchtlinge in Schwenningen angesiedelt und im Zuge des sogenannten Wirtschaftwunders schließlich „Gastarbeiter“ angeworben.

Integration funktionierte in der Industriestadt nach dem Motto: „Hauptsach, se schaffet!“

Die Jugendstilvilla der Unternehmerfamilie direkt neben der Fabrik wird heute als Café genutzt. Vor der Rückfahrt sinnieren wir in diesem großbürgerlichen Interieur bei einer Tasse Kaffee über die „Selbstinszenierung von Unternehmern durch kulturelle Repräsentation“ und rekapitulieren unsere durch die Museumsführung gewonnenen Eindrücke.

Annemarie Conradt-Mach, die in verschiedenen Publikationen das Schwenninger Universum einer typischen Industriestadt erläutert, hat uns die besonderen Möglichkeiten der Regionalgeschichte wieder einmal zu Bewusstsein gebracht. Durch die örtliche bzw. regionale Begrenzung wird die Vergegenwärtigung von Historischem als einem Gesamtzusammenhang möglich: die wirtschaftliche Entwicklung verbunden mit den sozialen Auswirkungen, Arbeit und Freizeit, Geschlechter- und Generationenverhältnissen. Oder in der Formulierung von Heiko Haumann in seinem Aufsatz „Rückzug in die Idylle oder ein neuer Zugang zur Geschichte? Probleme und Möglichkeiten der Regionalgeschichte“ (Alemannisches Jahrbuch 1984/86): Regionalgeschichte als die Möglichkeit, „innerhalb eines überschaubaren Raumes so dicht analysieren zu können, dass eine Verbindung verschiedener Ebenen historischer Wirklichkeit gelingt“.

Markus Eisen