Besuch im Deutschen Tagebucharchiv

Foto: Deutsches Tagebucharchiv

Deutschlands Zentralstelle für autobiografisches Schriftgut

Am 28. Februar 2008 lernten die Besichtigungsteilnehmer durch Frau Werdnik auf unterhaltsame und instruktive Weise das Deutsche Tagebucharchiv kennen, das in diesem Jahr sein 10-jähriges Bestehen feiern kann. Es hat in Emmendingen im barocken Alten Rathaus von 1729 eine würdige Wirkungsstätte erhalten. Inzwischen ist das Archiv für Deutschland die Zentralstelle für autobiografisches Schriftgut, wie dies das „Archivio Diaristico Nazionale“ in Pieve Santo Stefano bei Arezzo für Italien und das Tagebucharchiv in Ambérieu für Frankreich ist.

Die Arbeitsweise dieses Archivs ist zunächst dadurch gekennzeichnet, dass alle eingehenden eindeutig autobiografischen Aufzeichnungen in die Sammlung aufgenommen werden. Die Neueingänge werden mit Angaben zu Autor sowie Ort und Zeit ihrer Niederschrift registriert und später in der seit 2004 jährlich erscheinenden Broschüre „Lebensspuren“ mit einer kurzen Notiz zu Verfasser und Inhalt bekannt gemacht. Die eigentliche inhaltliche Erschließung erfolgt durch zwei Lesegruppen, die aus den rund 60 dem Verein angehörenden ehrenamtlichen Lesern gebildet werden. Die Tagebücher werden von je zwei Lesern anhand von Fotokopien durchgearbeitet und in einem detaillierten Erfassungsbogen rubriziert, zu dem ein 45 Themen umfassendes Schlagwortverzeichnis gehört (z.B. Jugend, Krieg, Gefangenschaft, seelische Konflikte, soziale Konflikte, Beruf, Immigration, Weimarer Republik, Selbstreflexion). Anschließend werden diese Angaben in einer Datenbank abgespeichert, sodass sich der solchermaßen erschlossene Bestand mittels Suchworten schnell und umfassend auswerten lässt. Bei der jährlichen „Zeitreise“-Lesung im November wird von den Lesegruppen eine Auswahl zu einem Themenschwerpunkt vorgestellt (letztes Jahr: „Liebe“).

Der aus ganz Deutschland zusammengetragene Bestand ist inzwischen bei der Registernummer 1900 angekommen und umfasst insgesamt über 6000 Exemplare – weil dem Archiv von manchen Verfassern mehrere Einzelstücke oder gar die „gesammelten Werke“ überlassen wurden. Das älteste archivierte Exemplar ist ein pietistischer Kalender aus dem Jahr 1736, aber überwiegend datieren die Schriftstücke nach 1800, da autobiografisches Schreiben in größerem Umfang erst im Gefolge der Aufklärungsphilosophie und der dadurch bewirkten selbstreflexiven Geisteshaltung aufkam.

Inwiefern können autobiografische Schriften als historische Quellen dienen? Ein Verzeichnis des Emmendinger Archivs über dessen in- und ausländische Nutzer und deren Forschungsthemen zeigt, dass das Deutsche Tagebucharchiv besondere Chancen für alltags- und mentalitätsgeschichtliche Studien eröffnet – etwa für Untersuchungen zu den Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung oder auch zur Weltsicht einzelner Personen. Die autobiografischen Dokumente des Archivs sind in 5 Hauptgruppen unterteilt: Tagebücher, Lebenserinnerungen, Familienchroniken, Reisetagebücher/-berichte und Briefwechsel.

Für die Geschichtserforschung am interessantesten erscheinen die Tagebücher, weil sie ursprünglich zur Selbstvergewisserung und oft auch Problembewältigung dienen, nicht zur Veröffentlichung gedacht sind und daher den Alltag sowie die persönlichen Probleme unmittelbar und ungeschönt darstellen. So werden vielfach kollektive Krisen- und Katastrophenerfahrungen thematisiert wie z.B. durchlebte Kriegsjahre (insbesondere das Kriegsende 1945 in Berlin), Vertreibung aus den „Ostgebieten“, „Ausreise“ aus der DDR. Als Anschauungsbeispiel sahen wir das in französischer Gefangenschaft auf Toilettenpapier geschriebene Tagebuch eines evangelischen Pfarrers.

Demgegenüber sind Lebenserinnerungen eine grundsätzlich weniger verlässliche Quelle, da sie aus der Rückschau und in Kenntnis der historischen Bewertung der Vergangenheit mit Veröffentlichungsabsicht verfasst sind, wodurch (wie im Übrigen auch bei Zeitzeugen-Interviews) Beschönigung, Verdrängung oder Selbstzensur ins Spiel kommen.

Für das Grenzland-Projekt des Arbeitskreises Regionalgeschichte sollte das Deutsche Tagebucharchiv auf jeden Fall genutzt werden, zumal über die dortige Datenbank gezielte Nachforschungen beispielsweise zum Ortsbezug eines Autors oder zu seiner Generationszugehörigkeit gut möglich sind. Wahrscheinlich lassen sich so exemplarische Lebensschicksale von Menschen aus unserer Region finden, deren Lebensweg durch die Grenzlandproblematik gekennzeichnet ist, die sich hier im Zeitalter der Weltkriege besonders zugespitzt und viele Biografien in oft grausamer Weise geprägt hat. Solche autobiografisch dokumentierten Schicksale wären ein idealer Zugang zum künftigem Schwerpunktthema des Arbeitskreises.

Markus Eisen